Die Hüterin des Gemeinschaftsraums
Özlem Önen, 43 Jahre, gibt Einblicke in den commonroom in der Josefstadt und gleichzeitig auch in ihre eigene Biografie. Das Porträt einer facettenreichen Frau, niedergeschrieben aus der Sicht einer Freundin.
Von Türkan Köksal
„Alles beginnt mit der Sehnsucht“, heißt es in einem Gedicht der jüdischen Lyrikerin Nelly Sachs. Denn, so schreibt sie weiter: „Immer ist im Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres. Das ist des Menschen Größe und Not: Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe.“
Es könnte dem sensiblen Genie der Lyrikerin geschuldet sein, dass genau diese Verse das Gemüt der Person, die mir gegenübersitzt, nicht treffender beschreiben könnten. Obendrein haben die Eltern ihr auch noch den poetischen Namen „Özlem“ gegeben, der auf Deutsch nichts anderes als „Sehnsucht“ bedeutet.
Die Sehnsucht im Rückspiegel der Zeit
Wir befinden uns in den hinteren Ecken des commonroom. Der helle Raum ist großzügig geschnitten und lädt dazu ein, die Gedanken schweifen zu lassen. Der Tag ist noch jung und das geschäftige Treiben, das in einem Café herrscht, hält sich noch in Grenzen. Meltem, die Schwester von Özlem und das zentrale Köpfchen hinter der kulinarischen Identität von commonroom, kredenzt uns in formvollendeter Barista-Manier Kaffee und verschwindet schleunigst in die Küche. Ich dagegen empfinde eine mir unbekannte Aufregung und bin ziemlich gespannt auf unser Gespräch. Özlems olivgrüne Augen mustern mich besonnen, wie ich den Timer einstelle und mich gedanklich in den Interviewmodus manövriere.
Die Verknüpfung zu „nomen est omen“ ist geradezu verlockend. Allein schon deshalb, da mich mit meiner Gesprächspartnerin eine Freundschaft verbindet, die ihren Ursprung fern vom achten Wiener Gemeindebezirk in der Ewigen Stadt Rom hat und seither den Jahren und Umbrüchen im Leben zweier erwachsener Frauen standhalten und langsam gedeihen konnte. Was werde ich über die Person, die ich gut zu kennen meine, wirklich erfahren – welche Seiten an ihr darf ich neu entdecken und über welche Fakten könnte ich stolpern, die für mich bisher im Verborgenen blieben? Währenddessen setzt Özlem ganz formell mit Angabe ihres Geburtsdatums in einer spürbaren Klarheit in der Stimme zum Erzählen an. „Ich bin als erstes Kind in eine gutbürgerliche Familie aus Ankara hineingeboren“, führt sie weiter aus. Ihre Mutter ist Lehrerin und ihr Vater diente dem Staat als Beamter im Verkehrswesen. Eine glückliche und unauffällige Kindheit folgte. Hatte damals die Jugend noch die Konterfeis ihrer Helden als Poster in ihren Zimmern hängen, so wurde Özlem das Glück zuteil, dass ihre persönlichen Helden direkt über der Wohnung ihrer Eltern lebten. „Die Bekanntschaft mit Oğuz Abi und Cumhur Abla (Anm.: Abi [großer Bruder] und Abla [große Schwester] sind im Türkischen respektvolle Anreden auch für nicht verwandte ältere Personen) war wie eine Zäsur in meinem Leben“, offenbart sie. Das Pärchen, das in den 90er-Jahren Grafikdesign studierte, führte ein bilderbuchreifes Studentenleben und seine vier Wände avancierten zu einem beliebten Treffpunkt der hauptstädtischen Bohème, den Özlem täglich nach der Schule aufsuchte. Der Austausch mit verschiedenen Intellektuellen und Künstler:innen, die unweigerlich auch konträre Ansichten vertraten, legte den Grundstein für Özlems weiteren Lebensweg. Ihr Ton wird nostalgisch: „Diese Atmosphäre, das gelebte ,Leben und leben lassen‘ und in allem einen gemeinsamen Nenner zu suchen, um im Dialog bleiben zu können, hat mich fasziniert und geprägt“, erinnert sie sich. Obwohl ihre schulischen Leistungen den anspruchsvollen Anforderungen der türkischen Studienplatzvergabe für ein Medizinstudium genügten und sie sich bereits in einem blütenweißen Arztkittel mit Stethoskop um den Hals sah, kam eben aus dem Dunstkreis dieser Studenten-Community die Empfehlung, sich beruflich im kreativen Bereich zu versuchen.
Ein wenig Sturm und Drang
Dass während ihres Architektur-Studiums an der renommierten ODTÜ (Middle East Technical University) auch eine Leidenschaft für Keramikkunst in ihr entflammte, ist ein weiterer wesentlicher Aspekt der Entstehungsgeschichte von commonroom. „Ich liebe die Beschaffenheit von Tonerde. Sie ist wie ein Kompass und lenkt mich, zeigt mir, wann ich mal stoppen sollte, und sagt in einer eigenen Frequenz: ,Es langt, Özlem!‘“, schildert die Hobby-Keramikerin. „Der Umgang mit ihr lässt beiläufig hinter die Fassaden der Menschen blicken“, fügt sie noch unaufgeregt hinzu. Eine Hypothese ihrerseits, die sich immer wieder durch ihre zahlreichen Keramik-Workshops bei ihren Kursteilnehmer:innen überprüfen und bestätigen lasse. „Ich erkenne gekünstelt geduldige Menschen sofort – die Erde lässt sich nichts vormachen“, schmunzelt sie.
Unerwähnt darf auf keinen Fall eine weitere Begegnung bleiben. Als junge Studentin traf sie auf Isben, den späteren Vater ihrer Kinder. Aus den befreundeten Kommilitonen wurde im Lauf der Semester ein Liebespaar. Getreu dem klassischen „Post-Studium-Must-do“ tourten sie gemeinsam via Interrail durch Europa, bevor sie als Architekten die ersten Schritte in die Arbeitswelt machten. Es waren dann ihre „Doktoreltern“, die ihnen den Weg wieder zurück nach Europa, in die hiesige Alpenrepublik, ebneten, sodass sie seit 2007 als feste Größe zu Wiens internationaler Community gehören. „Da war dieses plötzliche Bewusstsein für die gesamten Freiheiten im Leben“, räumt sie ein. „Dazu zählt auch, die Chance wahrnehmen zu dürfen, irgendwo ein neues Leben anfangen zu können, eine neue Sprache zu lernen – einfach so, weil die Optionen da sind.“ Dann spricht wieder die Architektin aus ihr: „Die Baukunst hat mich gelehrt, die Gegebenheiten immer wieder neu zu bewerten und sich mit den vorhandenen Materialen den Änderungen anzupassen.“
Ein Sehnsuchtsort in Wien
Angekommen in Wien stürzte sich das junge Paar zunächst ins Arbeitsleben. Parallel dazu tüftelten sie an ihren Doktorarbeiten, trafen jede Menge Leute und feierten das Leben. So lebenswert sie Wien auch fanden, es fehlte ein Ort, an dem sie mit anderen Menschen ungezwungen zusammenkommen konnten. Ein Gemeinschaftsraum musste her. Also gründete das Duo gemeinsam mit einer Freundin Anfang 2013 den Verein odaada in der Kaiserstraße. Auf knapp 80 Quadratmetern wurde regelmäßig zusammen getöpfert, das Zeitgeschehen kommentiert, musiziert, über Trends debattiert, Kunstwerke wurden ausgestellt und Gedichte rezensiert, es wurde gekocht, getanzt und viel gelacht. „Es war eigentlich wie ein Experiment – und es ist voll aufgegangen“, blickt Özlem zurück. Viele Menschen, die den Ort zu dem machten, wofür er stand, kamen und gingen. Manche auch für immer. Unter den wechselnden Verantwortlichen für dieses gelungene Experiment, ist Özlem mittlerweile als feste Konstante an der Spitze des Vereins. Seit 2017 bereichert der Verein in den Räumlichkeiten von commonroom die Josefstadt. Das Programm umfasst ein breites Spektrum an Angeboten von Kursen sowohl für Kinder als auch für Erwachsene, angefangen von Ballett über Grundlagen der afrikanischen Kultur bis zu Vorträgen von Experten über die mediterrane Archäologie oder Workshops zu Makramee. „Bei commonroom steht immer das Verbindende im Vordergrund, egal ob jung oder alt, modern oder konservativ, laut oder leise, schwarz oder weiß. Es gibt keine Sprachbarrieren! Trennung findet hier keinen Platz“, erläutert die Wahl-Wienerin.
Ein coffeeroom im commonroom
Jedoch blieb auch commonroom von den Auswüchsen der globalen Pandemie nicht verschont. Das drohende Aus konnte mit den Spenden einer Crowdfunding-Aktion gerade noch abgewendet werden. „Die commonroom-Gemeinschaft ist treu und wächst täglich weiter“, freut sich Özlem. Als Architektin, Community-Managerin, Ehepartnerin, Freundin, Kunstliebhaberin, Nachteule, Tochter, Zuhörerin und zweifache Mutter hat sie es auch gewagt, unter die Unternehmer:innen zu gehen. Nun kann man die Kurse und Vorträge noch entspannter ausklingen lassen: Seit dem vergangenen Sommer gibt es einen integrierten Cafébereich für die Allgemeinheit. „Du weißt, du bist im commonroom, wenn die Kellnerin aus England, die Kursleiterin aus Kärnten, die Teilnehmer aus Brasilien, Kenia, Israel, Salzburg oder Sri Lanka und die Gäste im Schanigarten aus Kanada und Portugal stammen“ – mit musikalischer Begleitung aus dem Hip-Hop-Genre hätte der Spruch sogar Potenzial für ein TikTok-Video. Özlem lächelt milde über diese sperrige, wenn auch absolut legitime Feststellung. Mit viel gemeinschaftlichem Engagement und familiärem Zusammenhalt wird täglich dafür gesorgt, dass mitten in der Josefstadt jeder die Chance bekommt, seinen kleinen oder großen Sehnsüchten bei Kaffee und einem Stückchen Cheesecake ein bisschen näher zu kommen. Und wenn Özlems Mutter ab und zu dem Café einen Besuch abstattet, lässt sich diese Annäherung sogar bei türkischem Tee genießen. Im commonroom wird nicht getrennt. Immer ist im Herzen Raum für mehr, für Schöneres …
Wann hast du zuletzt einen Tag lang überhaupt nichts gemacht?
Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern.
Wenn du eine historische Persönlichkeit in den commonroom einladen könntest, wer wäre das?
Mahatma Gandhi
Was hast du als Kind auf die Frage geantwortet, was du später werden möchtest?
Mit sechs Jahren verknallte ich mich in meinen Zahnarzt. Aus damaliger Sicht ein durchaus hinreichender Grund, später auf jeden Fall Zahnmedizin zu studieren.
Gibt es ein Lied, bei dem du auf Knopfdruck lostanzen kannst?
Despacito
Wofür bist du in deinem Leben besonders dankbar?
Für mein Glück, genau diese Familie zu haben und viele besondere Menschen um mich herum, die unbewusst ihren ganz eigenen Beitrag dafür leisten.
Wie gehst du mit Stresssituationen um?
Der Gedanke an die Vergänglichkeit und somit die Existenz der Zeit wirken beruhigend auf mich.
Versuchst du gerade etwas Neues zu lernen?
Immer wieder aufs Neue: Self-Management
Kaffee oder Tee?
Kaffee. Forever
TÜRKAN KÖKSAL wohnt mittlerweile im Nachbarbezirk. Sie hat weiterhin ein Faible für die Josefstadt und für Menschen, deren Licht man auf den zweiten Blick wahrnimmt.
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