Die Wiege der Menschheit liegt in Afrika

In der großen Auslage liegen nett drapiert Yogablöcke, -gürtel und -matten. Yogaboom online – Selbstoptimierung steht auch in Krisenzeiten ganz oben auf der Liste.

Hat die Frau davor, die seit knapp 20 Jahren tagaus, tagein zwischen den beiden milliardenschweren Playern Geldinstitut und Themenwelt-Kaffeeshop steht, überhaupt eine Matratze?

Ja, aber nicht in der „teuren“ Josefstadt, wie Anna sagt, sondern in Favoriten. 2004, als sie noch auf der Straße lebte, hat ihr eine Frau in der Josefstadt empfohlen, zum Sozialamt zu gehen und sich bei der Wohnungssuche unterstützen zu lassen. Das hat Anna auch gemacht und bekam eine kleine Wohnung in Favoriten. Seitdem pendelt sie fast täglich außer an Sonn- und Feiertagen („Ich schlafe mich auch gerne einmal aus“) in die Josefstadt.

Bei jedem Wetter steht Anna an der Ecke Josefstädter Straße/Albertgasse, um die Straßenzeitung „Augustin“ zu verkaufen. „Im 10. Bezirk ist es mir zu gefährlich. Hier fühle ich mich sicher. Ich habe viele Stammkunden, die regelmäßig eine Zeitung kaufen, auch Schauspieler aus dem benachbarten Theater zählen dazu. Und zum Tratschen kommen gerne die Damen aus dem Grätzl.“ Bei Anna erfährt man immer die Neuigkeiten aus der Umgebung. Auch das Café Hummel hat sie immer im Blick. „Das Hummel ist angeblich teuer, aber die Leute sind normal. Hier in der Josefstadt sind sie nicht abgehoben.“

Anna ist in Brunn/Gebirge als mittleres von drei Kindern aufgewachsen. Sie ist bei den Schulschwestern zur Schule gegangen. Bei ihnen hat sie auch in der Küche zu arbeiten begonnen, später half sie dort im Kindergarten. Als sie durch Zufall erfuhr, dass die Schulschwestern schließen, schaute sie sich gleich um einen Job um. 1992 begann sie in Perchtoldsdorf bei einem Griechen. Dort lernte sie auch ihren Mann kennen. Der Grieche sperrte nach drei Jahren zu und nach acht Jahren ging ihre Ehe in die Brüche – der Beginn ihrer Obdachlosigkeit.

Am Freitag, dem 13. Dezember 2002, kam sie zum „Augustin“. Der 13. hat für Anna eine besondere Bedeutung, war es doch der Geburtstag ihres geliebten Opa. Heute hat sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie. „Ich werde im Sommer 60, dann gehe ich in Pension, aber den ,Augustin‘ werde ich weiter verkaufen. Viel Pension werde ich nicht bekommen. Jetzt bekomme ich Mindestsicherung. Ich bin so froh, dass es den ,Augustin‘ gibt, sie helfen bei Amtswegen mit dem Computer – in Zeiten von Corona geht es nicht anders. Meinen Strom kann ich nicht mehr bei Wien Energie direkt einzahlen, da muss ich jetzt zur Post. Alles sehr kompliziert.“ Anna hat mit der digitalen Welt nichts am Hut. Sie hat kein Handy, keinen Fernseher – ganz zu schweigen vom Internet!

„Beim ,Augustin‘ helfen sie mir auch, dass ich telefonieren kann.“ Und telefonieren tut Anna einmal in der Woche – mit ihrem Freund Joshua in Nigeria. Joshua wurde 2017 nach 16 Jahren in Österreich abgeschoben.

„Bevor ich schlafe, muss ich mich entspannen, und da lese ich. Ich interessiere mich für Geschichte. Ich habe gelesen, dass die Wiege der Menschheit in Afrika liegt, und darum verstehe ich noch weniger, wieso Joshua immer so viel Rassismus widerfahren ist.“

Und was wünscht sich Anna zu ihrem 60. Geburtstag? „Ich esse gerne Süßes, und was ich mir für alle Menschen wünsche, ist Gesundheit, Frieden, Gerechtigkeit – und dass dieser ,Coronascheiß‘ bald vorbeigeht!“


Ausgabe 01/2021