Keine Angst vor dem Älterwerden

Pensionist:innnen können mehr als Bingo spielen und Kuchen essen: Das ist der Anspruch dieses etwas außergewöhnlichen Klubs in der Schmidgasse, des Ateliers FORMAT60+.

Von Sophia Coper

In unmittelbarer Nähe der Piaristenkirche liegt ziemlich versteckt das Atelier FORMAT60+ des Pensionist:innenklubs Wien. Nachdem die Eröffnung letztes Jahr pandemiebedingt im Nichts verpuffte, wurde es diesen Sommer endgültig aus seinem Dornröschenschlaf wachgeküsst.

„Hier soll es zeitgenössisch anstatt verstaubt sein“, so Marlene Bettel, die das Atelier zusammen mit Markus Gebhardt ins Leben gerufen hat. Gebhardt entwarf das Konzept und leitet die Klubs des 6., 7. und 8. Bezirks, Bettels Wirkungsbereich beschränkt sich auf das FORMAT60+, dessen offizielle Leiterin sie ist. Gemeinsam entwickeln die beiden Ideen und Konzepte, um den Pensionist:innen ein breiteres Spektrum an Aktivitäten anzubieten, das sich nicht am herkömmlichen Repertoire orientiert.

Eines dieser neuen Angebote ist die „Schreibwerkstatt“ von Benedikt Steiner. Schreiben ist mehr als Worte zu Papier zu bringen, doch welche Bedeutung es genau besitzt, das ist von Person zu Person unterschiedlich. Die an einem heißen Junitag versammelte Runde besteht aus zurückhaltenden und lebendigen Charakteren. Was sie eint, ist das Bedürfnis, Geschichten zu erzählen. Unter Steiners Leitung werden Textstellen analysiert und interpretiert, am Ende gibt es zudem Gelegenheit, sich selbst zu versuchen. Dabei entstehen ganz unterschiedliche Ergebnisse, denen aber eins gemein ist: die Freude, mit Sprache zu gestalten.

Manchmal geht es auch hitzig zu – so sind nicht alle Teilnehmer:innen im Kurs „Schriftbilder“ mit den Vorgaben einverstanden. „Schwarz trag ich zur Beerdigung. Oder zum Konzert“, lehnt eine Teilnehmerin die vorgeschlagene Ölfarbe entschieden ab und benutzt im Endeffekt grüne Buntstifte. Kursleiterin ist Künstlerin und Josefstadt-Urgestein Ulli Klepalski, deren eigene Arbeitsstätte nur ein paar Schritte entfernt ist. Im FORMAT60+ animiert sie Pensionist:innen, für sie berührende Textstellen mitzubringen und diese zu verbildlichen. Die Idee entspringt ihrer eigenen Erfahrung: „Manchmal wühlt mich ein Buch beim Lesen so auf, dass ich innehalten, das Buch weglegen und es aufmalen muss.“ Das Konzept stößt auf Resonanz: Alle arbeiten konzentriert und begeistert an ihren Werken – egal mit welcher Farbe.

Nach einer längeren Anlaufphase sind die Angebote mittlerweile gut gefragt. Nicht nur für Josefstädter:innen ist das Atelier ein Treffpunkt, aus allen möglichen Bezirken strömen Pensionist:innen in die Schmidgasse. Der Großteil erfährt – wer hätte das gedacht – aus dem Internet davon, aber auch der Buschfunk funktioniert hervorragend.  Ausschlaggebend für das Interesse ist immer die künstlerische Orientierung des Klubs. „Ich drücke mich gerne auf unterschiedliche Art und Weise kreativ aus“, so Peter Schneider (62), der durch Zufall auf die Angebote gestoßen ist und den Weg aus dem 3. Bezirk gerne auf sich nimmt. Sein Bild beäugt er zuerst kritisch: „Bin eigentlich nicht so der Maler“, aber die anerkennenden Blicke der anderen bewegen ihn zu einem milderen Urteil.

Gefragt nach ihrer Arbeit, beschreibt Marlene Bettel „eine – Achtung, Kitsch! – magische Stimmung“ im Atelier. Viele Teilnehmer:innen freuen sich, Angebote
wahrzunehmen, für die sie in ihrem Berufsleben keine Zeit gefunden haben. Zudem wird hier die Gelegenheit geboten, sich in einem neuen Rahmen mit der eigenen
Vergangenheit auseinanderzusetzen. Immer wieder fallen den Teilnehmer:innen Anekdoten ein, die thematisch zu den Kursinhalten passen und die sie sogleich
mit Pinsel, Bleistift oder Kugelschreiber verarbeiten.

Eine Zukunftsprognose? „Heute, das ist der Aperitif vor dem Aperitivo“, so Benedikt Steiners Einschätzung im Juni, gefragt nach dem nächsten Termin. Und in der Tat – die Aufbruchsstimmung und die Begeisterung sind auch nach ein paar Monaten noch nicht verflogen. Bei jedem Besuch schlägt einem die gleiche freudige Stimmung entgegen, immer größer wird der Kreis, der sich regelmäßig in der Schmidgasse tummelt.

Das FORMAT60+ scheint eine Lücke zu füllen, die vielleicht nicht jeder im Pensionnist:innenklub vermutet hätte. Selbst wenn man nur herkommen mag, um Kuchen zu essen – verstaubt ist es hier ganz sicherlich.

 

KLUB+ FORMAT60+: 8., Schmidgasse 11. Mo–Fr 13–18h, +43 1 990 39-96, format60plus@kwp.at
https://kwp.at/pensionistenklubs/unsere-klubs-2/unsere-klubs/format-60/

 

SOPHIA COPER wohnt zwar im Siebten, schreibt aber trotzdem mit. Nicht nur, weil sie die Gespräche mit ihrer Großmutter vermisst, hilft sie regelmäßig im FORMAT60+ aus und ist seit jeher begeistert von der Lebensfreude, die dem Klub inne wohnt.

 


Ausgabe 04/2021


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