Mensch Mama!

In drei Monaten endet meine Karenz. Besonders an Tagen, an denen ich es bis Mittag kaum schaffe, meine Zähne zu putzen, sehe ich meiner zukünftigen Rolle als berufstätige Mama mit Sorge entgegen.

Von Nathalie Kroll

Früher habe ich keinen Gedanken an Großfamilien und Alleinerziehende verschwendet, jetzt empfinde ich nur noch Bewunderung für sie. Meine Aufgaben sind (vermeintlich) niederschwelliger, trotzdem schaffe ich sie nicht: täglich frisches Essen kochen, den Haushalt in Schuss halten, Körperpflege. Alles fällt der Priorität zum Opfer, meinen einjährigen Sohn Manuel zu bespaßen und glücklich zu machen. Ich kann nicht gleichzeitig spielen und Wäsche aufhängen, ein Kind auf dem Arm tragen und Zwiebel in Würfel schneiden.

In meiner Heimat Bolivien tragen die Indio-Mamas ihre Kinder immer und überall in einen bunten Schal gewickelt auf dem Rücken. Bald nach der Geburt gehen sie arbeiten, nicht selten auf dem Feld. Mir Manuel jetzt auf den Rücken zu schnallen, dafür ist der Zug aber abgefahren. Mein Sohn hat eine hundertprozentige Betreuung kennengelernt, und die will er jetzt. Was wir gegenwärtig brauchen, ist ein Kindergartenplatz.

Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Dieses Dorf, das suchen wir hier. Die Großeltern leben 900 Kilometer entfernt (Deutschland, noch eine weitere Heimat), ein Schicksal, das wir mit vielen Zugezogenen teilen. Sie nicht hier zu haben, ist ein großer Verlust. Umso mehr wünsche ich mir, dass Manuel hier in der Josefstadt vielfältige Ansprechpartner und ein soziales Gefüge findet. Sich als gebürtiger Wiener mit deutscher Staatsbürgerschaft und bolivianischen Wurzeln zugehörig zu fühlen, wird für ihn wahrscheinlich eine zentrale Herausforderung werden. Aber Manuel steht nur als ein Beispiel von vielen. Ich weiß, wovon ich rede.

Für die Josefstädter:innen bin ich eine Zugezogene, für die Österreicher:innen zu deutsch, für die Deutschen ein Multikulti- Mensch, und in Bolivien, dem Land, in dem ich geboren wurde und aus dem meine Mama stammt, fühle ich mich völlig fremd. Wenn man von allem ein bisschen hat, gehört man nirgendwo wirklich hin. Es liegt nicht nur an einem selbst, eine Identität zu empfinden, sondern auch an den Menschen, die einen umgeben. Im April startet Manuel mit der „Kita“, der erste Schritt hinaus in die Welt. Ich wünsche ihm, dass er sein Dorf findet, Freund:innen und Betreuer:innen, die es ihm nicht übel nehmen, wenn er mal „Mülleimer“ sagen sollte.

Ausgabe 01/2022


Gefördert durch die Wirtschaftsagentur Wien – ein Fonds der Stadt Wien. Realisiert in redaktioneller Unabhängigkeit.

wirtschaftsagentur logo