Plädoyer für den Schlussstrich

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. ”Dieser Vers aus Hermann Hesses „Stufen“ ist vielen Ohren vertraut. Er beschreibt die Geisteshaltung unserer Gesellschaft sehr trefflich – sich laufend neu zu erfinden, ständig Neues zu beginnen und immer nach etwas Neuem zu suchen.

Iva Walden

Aus jeder noch so kleinen Gelegenheit sprudelt etwas Neues hervor und alle sind begeistert. Nichts gegen den Neubeginn, aber haben wir nicht etwas Wichtiges vergessen?

„Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe. Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne TrauernIn andre, neue Bindungen zu geben.“

Hermann Hesse wusste, dass vor dem Anfang ein Ende stehen muss. Ich will ihm hier Recht geben: ohne Schlussstrich kein Neubeginn! Ich bin ein großer Fan des Schlussstrichs und ich habe in meinem Leben schon oft einen gezogen – unter Ausbildungen, unter mein Angestelltendasein, unter ungesunde Beziehungen, unter persönliche Überzeugungen und vieles mehr, zu dem Sie als Leserin und Leser sicherlich einen Bezug herstellen können.

Für mich stellt sich heute, in der Gegenwart eines drastischen „Newism“ (deutsch: „Neuismus“, die Überzeugung, dass das Neue immer besser ist als das Bestehende), recht häufig die Frage, wie es denn in unserer Gesellschaft mit dem Zu-Ende-Denken, Fertigmachen und Abschließen von Begonnenem steht. Welchen Wert geben wir diesen Entscheidungen?

Ist es nicht schön, einmal einen Punkt zu setzen, zu wissen, etwas geschafft und vollendet zu haben? Ich denke da nur an mein Studium, an die vielen abgesessenen und durchgelernten Stunden. Fast hätte mir mein ausgeprägter Kinderwunsch den Abschluss vereitelt. Letztlich hatte ich beides: Diplom und Kinder.

Eines ist für mich jedoch klar: Es erfordert viel mehr Mut, einen Schlussstrich unter Dinge zu ziehen, die nicht so laufen, wie wir es geplant haben. Zu erkennen, dass etwas nicht der richtige Weg oder die beste Entscheidung war, ist immer schmerzhaft. Mein bisher prägendster Moment des Schlussstrichs war jener, als ich erkannte, dass meine Ehe keinen Sinn mehr machte. Die Aufrichtigkeit zu finden, diesen Tatbestand zu erkennen, ihn laut zu äußern und die notwendigen nächsten Schritte zu setzen – mit all ihren Konsequenzen –, das ist meiner Meinung nach jene Fähigkeit, die unserer Gesellschaft heute häufig fehlt. Statt ein klares und kontrolliertes Ende zu setzen, wird kopflos die Flucht ergriffen (um sich wieder in etwas Neues zu stürzen) oder klagend und weinend gehofft, jemand anderer würde uns aus unserem selbst verschuldeten Elend befreien. Nur: Das wird nicht passieren.

Ich bin eine Befürworterin des gezielt gesetzten Schlussstrichs. Die Kompetenz, reflektiert und eigenverantwortlich Dinge zu einem Ende zu bringen, das uns weiterbringt und für einen Neustart befähigt, möchte ich mir keinesfalls nehmen lassen. Wie sehen Sie das?

IVA WALDEN. Die gebürtige Wienerin ist bekennender Workaholic und Vollblut-Mama. Zwischen Familie, Sport und Selbstständigkeit sucht sie immer noch etwas Zeit für persönliche Weiterbildung und gesellschaftliches Engagement. Organisation und Prioritätensetzung ist alles!

 


Ausgabe 04/2021


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