Wenn Schafe das Schlafzimmer erobern

Seit 40 Jahren verarbeitet die Wollwerkstatt aus Texing (Niederösterreich) Naturrohstoffe in Handarbeit zu Matratzen, Decken und Kissen. Was ist dran am guten Ruf von Schafwolle?

Von Türkan Köksal

Es ist 9 Uhr. Der Tag hat für die zweifache Mutter längst begonnen: Hanna Alber, Geschäftsführerin der Wollwerkstatt, schaut während unseres Gesprächs im digitalen Raum mit wachem Blick in die Kamera und lässt die Tür zu ihrem Büro noch offen. Kurz erscheint eine Angestellte im Bild, die eine Anweisung von der Chefin annimmt. Diese drückt zwischendurch ein paar Anrufe weg, während sie von den jüngsten Marketingmaßnahmen erzählt. Sie freut sich über die Reaktionen auf den aktuellen Katalog und die Erneuerung der Firmen-Homepage. Schließlich steht sie auf und macht die Tür zu. „Schafwolle wurde lange Zeit als Abfallprodukt behandelt“, räumt sie ein. Der tierische Rohstoff stieg zunächst zum Nebenprodukt in der Landwirtschaft auf, bevor er den Weg in die Schlafzimmer schaffte.

Schafwolle wird im industriellen Bereich für ihre schwere Entflammbarkeit geschätzt und auch für Dämmungszwecke eingesetzt. Aber der Reihe nach: Bevor die Wollwerkstatt ihre Kund:innen in Schafwolle einbettet und umhüllt, muss erst einmal der Schafscherer beim jeweiligen Partnerbauer dafür Sorge tragen, dass buchstäblich kein Schaf ungeschoren davonkommt. Im nächsten Schritt fährt der Bauer die Schmutzwolle nach Texing zur Wollwerkstatt. „Die Schafwolle wird in mehreren Gängen gewaschen, ehe sie für den individuellen Gebrauch eingesetzt werden kann“, erläutert Hanna Alber. Diesen Vorgang übernimmt eine Spezialwäscherei. Beim Auswringen entsteht wiederum ein wertvolles Nebenprodukt, das wachsartige Wollfett Lanolin. Es dient als Grundlage für Salben. „Nachdem die saubere Wolle retourniert wird, beginnt der Verarbeitungsprozess bei uns vor Ort. Unsere ,Wölfe‘ (im Krempelwolf wird die Wolle mittels Walzen bearbeitet – Anm.) sind schon seit den 50er-Jahren im Einsatz und pflücken Faserbällchen auseinander, sodass die Wollmasse aufgelockert wird“, erklärt Alber. „Als Nächstes wird die Wolle kardiert, das heißt gekämmt. Dabei entsteht das Vlies, das die Textilien so flauschig macht.“

collage: links, zusammengerollte bettdecke, rechts, ein spielzeugschaf auf einem stuhl

Schafwolle ist ein nachwachsender Rohstoff, der dazu auch nachhaltig und kompostierbar ist. Durch ihre gekräuselte Faserstruktur kann sie beides: wärmen und kühlen. „Es entsteht nicht das Gefühl, dass man schwitzt, obwohl es unter der Decke warm ist“, erklärt die Geschäftsfrau, zu deren Gruppe auch der Vega-Nova-Shop in der Josefstädter Straße zählt. Darüber hinaus kann die Wolle Schadstoffe aus der Luft aufnehmen und neutralisieren. „Wir beziehen die Wolle ausschließlich von gesunden, lebenden Schafen, größtenteils aus kontrolliert biologischer Tierhaltung“, versichert uns die Unternehmerin. „Unsere Produkte bestehen aus mulesingfreier Wolle“, fügt sie hinzu. Als Mulesing bezeichnet man eine gängige Methode, die in Australien praktiziert wird, um einen Befall mit Fliegenmaden zu vermeiden: Die sensible Haut um den Schwanz der Schafe wird weggeschnitten – die Tiere bekommen dabei keinerlei schmerzlindernde Mittel verabreicht.

Wie viele Schafe gibt es in Österreich? Robert Proidl könnte es wissen. Schließlich ist er gemeinsam mit seiner Ehefrau Ingrid einer von jenen rund 700 regionalen Bauern, mit denen die Wollwerkstatt kooperiert. Er wagt eine vorsichtige Schätzung. Die richtige Antwort: Ungefähr 394.000 Schafe werden in Österreich gehalten (Stand 2021/Quelle: Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft). Das ist etwas weniger als die Einwohnerzahl Vorarlbergs. 20 Schafe leben in Dross bei Krems auf dem Hof der Proidls, die seit 20 Jahren die Wollwerkstatt beliefern. „Einmal im Jahr, im Mai, werden alle Schafe geschoren“, berichtet Robert Proidl. An der Schur führt kein Weg vorbei – zum einen, damit die Tiere den heißen Sommer überstehen können, und zum anderen, um eventuelle Parasiten loszuwerden. Ob das den Tieren nicht wehtut? „Nein. Es wird dann ein bissi wild für zwei bis drei Stunden in der sonst immer friedlichen Runde“, sagt er. „Schafe sind Fluchttiere, deshalb fällt ihnen das Stillhalten schwer.“ Die Schur wirft 80 Kilogramm Wolle ab. Das Gros der Masse bildet die Rückenwolle der Tiere. Sie ist am wenigsten verschmutzt.

„Jedes Stück aus der Wollwerkstatt ist ein Unikat“, schwingt der Stolz in Hanna Albers Stimme. Dafür sind die geschickten Hände der insgesamt fünf Damen zuständig, die in der Näherei arbeiten. Helga Schreivogel zählt seit fast 40 Jahren zur Belegschaft. Angefangen hat sie im Jahre 1983 mit der Herstellung von klassischen Bettwaren und erlebt seitdem mit jedem weiteren Dienstjahr, wie sich das Sortiment stetig erweitert. Heute näht sie neben Matratzen und Unterbetten auch Bankauflagen, Babyschlafsäcke, Stillkissen und sogar Yoga-Zubehör. An einen besonderen Auftrag erinnert sie sich gerne: „Einmal wandte sich ein älteres Ehepaar mit einem speziellen Wunsch an uns. Sie brachten es nicht übers Herz, ihr verschlissenes Sofa zu entsorgen. Also bin ich zu ihnen hingefahren, habe alles ausgemessen, mich in das Ganze hineingefühlt und die Überzüge sowie Polsterungen neu genäht.“

„Wie schlafen Sie, Frau Alber?“, lautet die letzte Frage. „Sehr gut!“, kommt die Antwort ohne Zögern. Auf die allseits bekannte Einschlafmethode mit dem Schäfchenzählen muss Hanna Alber wohl kaum zurückgreifen. Für einen erholsamen Schlaf vertraut sie dennoch auf die Haarpracht dieser Spezies.
www.wollwerkstatt.at

collage, links wollschnitzl, rechts zusammengelegte socken in einem regal

© Eva Zangerle

Gut zugedeckt

Mehr als 80 Tonnen Schafwolle haben dieses Jahr die Tore der Wollwerkstatt im Rohzustand passiert. Für eine Standarddecke aus Merinowolle mit den Maßen 200 x 140 Zentimeter benötigt die Näherei eine Füllung von ca. 1,8 Kilogramm Schafwolle.

Ganz verstrickt

Hautfreundlich, knitterarm und warm durch die kalte Jahreszeit: Mit Pullis, Ponchos, Schals, Socken, Strümpfen und Mützen aus Wolle gibt es eine große Auswahl an Kleidungsstücken und Accessoires, die sich als Winterbegleiter eignen.


Ausgabe 04/2022